Das Pferd Saint Boy von Annika Schleu aus Deutschland verweigert den Sprung. © dpa-Bildfunk Foto: Marijan Murat

Moderner Fünfkampf

Fünfkampf: Reit-Drama um Schleu - Tierwohl-Debatte entbrannt

Die olympischen Goldträume von Fünfkämpferin Annika Schleu sind beim Springreiten von Tokio zerplatzt. Die in Führung liegende Berlinerin kam beim dritten von fünf Wettkämpfen mit dem Pferd überhaupt nicht zurecht und fiel weit zurück. Anschließend entbrannte eine Debatte über das Verhalten der Bundestrainerin und das Wohl der Pferde im Fünfkampf.

Annika Schleu kamen schon während des Rittes die Tränen. Verzweifelt versuchte sie, den Parcours irgendwie zu beenden. Doch sie bekam Saint Boy nicht unter Kontrolle und kam vollkommen aufgelöst zurück in die Wechselzone.

"Es waren endlos lange Sekunden"

"Das Pferd und ich haben uns vorher richtig gut verstanden, beim Einreiten lief es super. Aber direkt, als ich in den Parcours reingeritten bin, hat man gemerkt, dass das Pferd heute nicht will. Ich war kurz davor zu sagen, es hat keinen Sinn, aber natürlich versucht man doch noch alles, um seinen Traum leben zu können", sagte die enttäuschte Schleu der Sportschau: "Es waren endlos lange Sekunden, es hat sich für mich wie eine Ewigkeit angefühlt. Es ist tragisch. Ich werde wohl eine Weile brauchen, um darüber hinwegzukommen."

Auch Bundestrainerin Kim Raisner war geschockt. Sie sagte im Sportschau-Interview mit Tränen in den Augen: "Es ist nicht ihre Schuld. Das Pferd muss ein Problem mit dieser Arena haben. Sie hätte hier nur durchkommen müssen. Selbst mit fünf Abwürfen wäre sie vorne dabei gewesen, weil sie so gut ist."

Kritik am Verhalten der Bundestrainerin

Schleus geplatzte Medaillenchancen bewegten viele Zuschauerinnen und Zuschauer. Viele fühlten mit ihr. Raisner wurde hingegen in den sozialen Netzwerken für ihr Verhalten kritisiert. Zu Beginn von Schleus Ritt ist deutlich zu hören, wie die Bundestrainerin die Reiterin lautstark auffordert: "Hau' richtig drauf." Außerdem schlug Raisner Saint Boy mit der Faust in die Seite. Raisner erklärte später ihre Sicht der Dinge: Es sei "keine Quälerei, dass man mal mit der Gerte hinten draufhaut. Sie hat dem Pferd nicht im Maul gerissen. Sie hatte keine scharfen Sporen dran. Pferde quälen sieht anders aus."

Allerdings wurde auch Schleu für den intensiven Einsatz von Sporen und Gerte kritisiert. Laut eigener Aussage erhielt sie direkt nach dem Wettbewerb in den sozialen Netzwerken "Hassnachrichten". "Es sind schon viele gemeine Nachrichten reingekommen. Man möchte als Fernsehzuschauer jetzt vielleicht glauben, dass es bei uns immer so ist wie heute. Aber die Erfolge, die wir sonst gefeiert haben, sprechen dagegen. Wir Deutschen sind im Modernen Fünfkampf als gute, solide und einfühlsame Reiter bekannt", sagte sie zu den anonymen Anfeindungen.

DOSB: Regelwerk sollte geändert werden

Die Ereignisse in Tokio lösten eine Debatte über das Tierwohl und die Regeln im Fünfkampf aus. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) forderte Konsequenzen: "Der heutige Wettbewerb im Reiten des Modernen Fünfkampfs war teilweise von Szenen geprägt, die dem Ansehen der Sportart schaden. Zahlreiche erkennbare Überforderungen von Pferd-Reiter-Kombinationen sollten für den internationalen Verband dringend Anlass dafür sein, das Regelwerk zu ändern. Es muss so umgestaltet werden, dass es Pferd und Reiter schützt. Das Wohl der Tiere und faire Wettkampfbedingungen für die Athletinnen und Athleten müssen im Mittelpunkt stehen."

Die Deutsche Reiterliche Vereinigung äußerte sich ähnlich: "Aus unserer Sicht muss das Regelwerk dieser Sportart so gestaltet sein und angewendet werden, dass Reiter und Pferd geschützt werden. Hier besteht beim Modernen Fünfkampf offensichtlich dringender Handlungsbedarf." Die Bilder hätten eine klare Überforderung von Reiterin und Pferd gezeigt. "Unser Verständnis der Reiterei liegt in der Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd und nicht darin, das Pferd als Sportgerät zu betrachten."

Auch der Deutsche Verband für Modernen Fünfkampf (DVMF) sieht "dringenden Handlungsbedarf" und fordert die Anpassung des Reitreglements. "Entsprechende Änderungen wurden bereits erarbeitet und dem Weltverband (UIPM) vorgeschlagen. Dies hilft allerdings Annika Schleu nicht. Sie konnte ihren Traum einer Medaille bei den Olympischen Spielen in Tokio nicht realisieren", teilte der Verband mit. Die Geschehnisse würden nun aufgearbeitet, "allerdings wehrt sich der Spitzenverband entschieden dagegen, dass eine Sportlerin persönlich beschimpft und beleidigt wird. Der Verband wünscht sich eine konstruktiv-sachliche Debatte rund um den Modernen Fünfkampf."

"Fünfkampf hat nichts, aber auch gar nichts mit Reiten zu tun. Die Pferde sind ein Transportmittel, zu denen die Athleten keinerlei Bezug haben. Denen kann man genauso gut ein Fahrrad oder einen Roller geben." Isabell Werth, siebenmalige Dressur-Olympiasiegerin

Weltverbandspräsident Schormann sieht keine Grundlage zur Beschwerde

Keinen Grund zur Kritik sieht dagegen Klaus Schormann. Der deutsche Weltverbandspräsident der Modernen Fünfkämpfer verteidigte die Auswahl der Pferde. Man habe die Pferde getestet und sie seien gut präpariert gewesen, sagte Schormann. "Es gibt keine Grundlage für die Sportler, sich zu beschweren." Es habe nur an ihnen selbst gelegen, wenn sie in einigen Teilen des Wettbewerbs nicht erfolgreich gewesen seien, sagte der 75-Jährige. "Alles war genial, war super". Er sei mit der Organisation "sehr zufrieden".

Zumutung für Pferd und Reiterin

Schleu mit Saint Boy überhaupt nicht starten zu lassen, wäre offensichtlich die richtige Entscheidung gewesen. Ein Pferdewechsel bei Problemen und Verweigerungen ist laut Fünfkampf-Regelwerk aber nur unter ganz bestimmten Bedingungen erlaubt. So muss ein Pferd bei einer Reiterin viermal das Springen verweigern, bevor es der Folgereiterin erlaubt wird, auf ein Ersatzpferd umzusteigen.

Im Springen mit der Russin Gulnaz Gubaydullina hatte Saint Boy "nur" dreimal verweigert. Wenn ein Pferd offensichtliche Probleme mit dem Parcours, dem Stadion oder den Umgebungsbedingungen hat, reicht das laut Regularien nicht für einen Pferdewechsel. Im Fall von Saint Boy und Schleu eine für die ganze Welt sichtbare Zumutung für das Tier und die Sportlerin.

Schleu hielt vor dem Ritt Rücksprache mit einem Veterinär und holte sich Tipps von der Besitzerin ein. Doch es half nichts. Es gingen Bilder um die Welt, die kein gutes Licht auf den Modernen Fünfkampf geworfen haben.

Schöneborn mit ähnlicher Erfahrung in Rio

Peking-Olympiasiegerin Lena Schöneborn war vor fünf Jahren in Rio Ähnliches wie Schleu passiert. Sie war damals als Vierte ins Springen gegangen und war aus dem Parcours genommen worden, nachdem ihr Pferd viermal verweigert hatte. In Tokio gehörte Schöneborn zu den Zuschauern von Schleus Ritt und vergoss auf der Tribüne bittere Tränen des Mitgefühls. Auch Raisner war fassungslos: "Ich kann kaum glauben, dass uns das zwei Olympische Spiele hintereinander passiert", sagte sie.

Schleu verbesserte sich im abschließenden Laser Run in der Gesamtwertung nicht mehr und blieb damit 31. des Gesamtklassements. Die zweite deutsche Starterin Rebecca Langrehr (Berlin) kam auf Platz 28.

Ergebnisse

Moderner Fünfkampf, Einzel, Frauen - Endstand

Gold Flagge Großbritannien GBR Kate French
Silber Flagge Litauen LTU Laura Asadauskaite
Bronze Flagge Ungarn HUN Sarolta Kovacs
4. Flagge Italien ITA Alice Sotero
5. Flagge Türkei TUR Ilke Ozyuksel
28. Flagge Deutschland GER Rebecca Langrehr
31. Flagge Deutschland GER Annika Schleu

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 06.08.2021 | 12:30 Uhr

Stand: 07.08.21 02:32 Uhr

Medaillenspiegel

Aktueller Medaillenspiegel
Platz Land G S B
1. Flagge USA USA 39 41 33
2. Flagge Volksrepublik China CHN 38 32 18
3. Flagge Japan JPN 27 14 17
4. Flagge Großbritannien GBR 22 21 22
5. Flagge Russisches Olympisches Komitee ROC 20 28 23
6. Flagge Australien AUS 17 7 22
7. Flagge Niederlande NED 10 12 14
8. Flagge Frankreich FRA 10 12 11
9. Flagge Deutschland GER 10 11 16
Stand nach 339 von 339 Entscheidungen.

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