Die US-amerikanische Kugelstoßerin Raven Saunders © picture alliance/dpa Foto: Michael Kappeler

Leichtathletik

"The Hulk" Saunders: Kugelstoß-Silber nach langer Leidenszeit

von Matthias Heidrich

"Hulk"-Maske, gefärbte Haare und Faxen vor der Kamera: Auf den ersten Blick hat mit Raven Saunders eine extrovertierte Amerikanerin Kugelstoß-Silber in Tokio gewonnen. Doch die Lebensgeschichte der 25-Jährigen hat wenig mit olympischem Glanz zu tun. Sie handelt von einer psychischen Erkrankung bis hin zu Suizid-Gedanken.

Hätte Raven Saunders Anfang 2018 nicht ihren ganzen Mut zusammengenommen und auf dem Handy eine Textnachricht an ihre ehemalige Therapeutin geschrieben, die Amerikanerin wäre mit Sicherheit nicht bei den Olympischen Spielen in Tokio dabei gewesen. Vielleicht auch nicht mehr auf dieser Welt.

"Ja, ich war bereit, mir das Leben zu nehmen", hatte Saunders in einem Interview der US-Journalistin Cassie Carlson kurz vor ihrem ersten Auftritt in Japans Olympiastadion erzählt. Die ganze Geschichte ihrer langen Leidenszeit, ihrer Erkrankung, hatte die Athletin allerdings schon Anfang 2020 öffentlich gemacht, als sie in den sozialen Medien ein Foto ihres Armbandes aus einer psychiatrischen Klinik teilte.

"Ich schrieb ihr, dass ich Angst hätte und nicht weiß, was ich mit mir selbst machen würde. Zum Glück hat sie geantwortet", sagte Saunders über die Nachricht an ihre Therapeutin, zu der sie seit Monaten keinen Kontakt mehr gehabt hatte.

"Jung, schwarz und lesbisch"- Harte Zeiten in Mississippi

Nach Hilfe fragen, das wollte Saunders lange nicht. Sie wollte niemandem zur Last fallen. Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio hatte die damals 20-Jährige einen beachtlichen fünften Platz belegt, studierte an der Universität von Mississippi und startete für die "Ole Miss Rebels", dem Leichtathletik-Team der renommierten Universität. Doch tief im konservativen Süden der USA hatte es die Kugelstoßerin nicht leicht: "Ich war jung, schwarz und lesbisch. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass es keinen Ausweg für mich gibt."

Hilfe in einer psychiatrischen Einrichtung

Aber es gab einen. Saunders suchte noch am selben Tag ihres Hilferufs eine psychiatrische Einrichtung in Memphis auf. Dort wurden bei ihr Depressionen, Angstzustände und ein posttraumatisches Stresssyndrom diagnostiziert. Sie verließ die "Ole Miss", zog sich zwei Jahre lang aus dem Wettkampfsport zurück und arbeitete mit Unterstützung ihrer Familie an ihrer mentalen Gesundheit. Auch die Ernährung stellte Saunders um. Es waren Entscheidungen, die ihr Leben veränderten.

Depression: Hilfe für Betroffene

  • Telefonseelsorge: anonyme, kostenlose Beratung rund um die Uhr, Tel. (0800) 111 0 111 oder (0800) 111 0 222
  • Kinder- und Jugendtelefon "Nummer gegen Kummer": kostenlose Beratung, Tel. 116 111. Elterntelefon: (0800) 111 05 50
  • Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe: Tel. (0800) 33 44 533. Die Deutsche Depressionshilfe bietet einen Selbsttest sowie eine Übersicht zu regionalen Angeboten.
  • Ärztlicher Bereitschaftsdienst der Krankenkassen: 116 117.
  • Ambulanz der psychiatrischen Abteilung einer Klinik vor Ort - in jedem Fall bei Suizidgedanken.

Anfang 2020 war sie soweit, in den Kugelstoßring zurückzukehren - und offen über ihre Leidenszeit zu sprechen. "Ich wollte diejenige sein, die etwas sagt, um möglicherweise jemanden davon abzuhalten, diesen Weg zu gehen. Oder jemanden wissen zu lassen: 'Hey, du bist nicht allein'," sagt Saunders. "Mein Ziel ist es einfach, so viele Leben wie möglich zu retten."

Der gute und der böse "Hulk" in Saunders

Im olympischen Finale in Tokio trat Saunders mit einer grünen, furchterregenden "Hulk"-Maske an. Was in Zeiten von Corona wie eine Schutzmaßnahme vor dem Virus wirkt, hat einen ganz anderen Hintergrund. "The Hulk" war schon zu High-School-Zeiten der Spitzname der kräftigen Athletin. Mittlerweile hat sie die Figur des ambivalenten Superheldens, der halb Mensch, halb Tier ist, als eine Art Alter Ego angenommen: Der gute "Hulk" wächst im Kugelstoßring über sich hinaus. Es gibt aber auch den bösen "Hulk", der alles zerstört. Auch sich selbst.

In Tokio hat die 25-Jährige definitiv den guten "Hulk" ausgepackt und Silber gewonnen. Gold war gegen die überragende Chinesin Lijiao Gong selbst mit Superkräften nicht zu holen. "Die Geschichte ist noch nicht vorbei. Kämpf' weiter Baby, kämpf' weiter", schrie Saunders nach dem Kugelstoß-Finale in die Fernsehkameras. Eine Kampfansage an die Konkurrenz - und die inneren Dämonen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 02.08.2021 | 02:00 Uhr

Stand: 01.08.21 08:03 Uhr

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Aktueller Medaillenspiegel
Platz Land G S B
1. Flagge USA USA 39 41 33
2. Flagge Volksrepublik China CHN 38 32 18
3. Flagge Japan JPN 27 14 17
4. Flagge Großbritannien GBR 22 21 22
5. Flagge Russisches Olympisches Komitee ROC 20 28 23
6. Flagge Australien AUS 17 7 22
7. Flagge Niederlande NED 10 12 14
8. Flagge Frankreich FRA 10 12 11
9. Flagge Deutschland GER 10 11 16
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